In den letzten Jahren nimmt die Anzahl der Autismus-Diagnosen stetig zu. Handelt es sich bei diesem Phänomen, das laut ICD-10 als eine Entwicklungsstörung klassifiziert ist, um eine Modediagnose, die dazu dient Menschen mit von der Norm abweichenden Eigenschaften in eine bestimmte Schublade zu stecken? Oder könnte man nicht diese Entwicklung vielmehr als Chance sehen, ein größeres Bewusstsein bzw. Verständnis für die natürliche und neurobiologische Vielfalt zu ermöglichen, indem wir Autismus als neurodiverse Phänomene betrachten und wertschätzen?
PERSÖNLICHER HINTERGRUND
Als Psychologin und Mutter eines hochsensitiven und als eines als autistisch diagnostizierten Sohnes, betreffen mich diese Fragen ganz persönlich. Seit 2015, beschäftige ich mich mit Neurosensitivität und seit ca. 2 Jahren mit Autismus.
Bevor mein Sohn die Diagnose ‚Autismus-Spektrum-Störung‘ erhalten hatte, war mir bzw. uns als Eltern, bereits früher klar, dass unsere beiden Söhne in ihrer Art und in ihrem Wesen ganz anders sind. Während mir bei einem schnell klar war, dass er über eine erhöhte Neurosensitivität verfügt, fiel es mir schwer typische neurosensitive Merkmale meinem anderen Sohn zuzuordnen.
Einerseits scheint er eine sehr feine Wahrnehmung seiner (v.a. physischen) Umwelt zu haben. Seine Beobachtungsfähigkeit erstaunt mich immer wieder, d.h., was und wie genau er vieles wahrnimmt und beschreibt. Darüber hinaus finde ich, dass sein Bewusstsein und die Gedanken, die er sich (als Kind) dazu macht, ‚besonders‘ sind: Er denkt oft weiter/komplexer als z.B. Kinder in seinem Alter oder sogar Erwachsene. Auffällig erscheint mir zudem, dass es ihm im Vergleich zu seinem sehr empathischen Bruder schwerfällt soziale Interaktionen mit anderen einfühlsam einzugehen. Obwohl er auf der kognitiven Ebene sehr verständnisvoll sein kann, gelingt es ihm (insbesondere in spontanen Konfliktsituationen) anscheinend nicht emotional angemessen auf andere Kinder zu reagieren, bzw. mit ihnen zu kommunizieren. Er reagiert verzweifelt und frustriert, als ob ihn etwas blockieren würde.
"Die Natur ist wie sie ist:
Vielfältig,
und ohne eine einzige Störung. Es ist die
Kultur,
die sie kategorisiert,
einschränkt und ausschließt."
(Fabian Goldmann, Zeit.de)
Die Autismus-Diagnose unterstützt uns dabei, unseren Sohn, bzw. seine Schwierigkeiten, besser zu verstehen, um auch adäquat auf ihn eingehen zu können. In seiner Diagnose gibt es aber auch eine Kehrseite, insbesondere bei Aussenstehenden. Oft erweckt es den Eindruck, dass er nicht ‚normal‘ ist, bzw. sogar eine ‚Störung‘ hat. Bevor ich genauer auf diesen Zwiespalt eingehe, möchte ich zunächst kurz die typischen Merkmale bzw. unterschiedlichen Ausprägungen von Autismus beschreiben, und diese denjenigen von Neurosensitivität gegenüberstellen, um anschließend mögliche Erklärungsansätze und Schlussfolgerungen aufzuzeigen.
MERKMALE VON AUTISMUS UND VERGLEICH ZUR NEUROSENSITIVITÄT
Autismus wird als eine (tiefgreifende) Entwicklungsstörung klassifiziert, die durch folgende Auffälligkeiten gekennzeichnet ist: Autistische Personen nehmen die Welt anders wahr und verarbeiten Reize anders als nicht autistische Personen. Es fällt ihnen schwer, Reizinformationen zu sortieren bzw. zu filtern (Reizfilterschwäche). Sie haben oft Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation und können repetitive, stereotype Verhaltensweisen sowie Interessen aufweisen.
Da AutistenInnen sich sowohl in der Vielfalt und Ausprägung bei den Symptomen unterscheiden, gibt es eine große Spannungsbreite, die innerhalb des Autismus-Spektrums beschrieben wird. Auf der einen Seite des Spektrums, gibt es AutistenInnen mit ‚milderen Symptomen‘, die auch als „hochfunktionale“ AutistenInnen bezeichnet werden (dazu zählt z.B. auch das Asperger-Syndrom, wie es Elon Musk aufweist). Auf der anderen Seite findet man AutistenInnen mit stärkeren Beeinträchtigungen, wie die schwere frühkindliche Entwicklungsstörung, die z.B. auch mit einer Intelligenzminderung einhergehen kann.
Werden autistisch geprägte Merkmale mit
denjenigen der erhöhten Neurosensitivität
verglichen, dann fällt auf, dass es einige Überschneidungen gibt: Beide Personengruppen nehmen mehr und auf
eine andere Art und Weise Reize wahr.
Daraus resultierend, verfügen sie über
ein ‚anderes‘ Bewusstsein. Hingegen
bestehen die Unterschiede zwischen
Hochsensitiven und AutistenInnen darin, dass erstere eine höhere empathische Fähigkeit aufweisen, während bei den letzteren, nicht die empathische Fähigkeit im Vordergrund steht, sondern tendenziell eher die repetitiven, stereotypischen Verhaltensweisen.
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